Dienstag, 26. November 2013

Varissou und der finnische Multikulturalismus



Ich betrete den Supermarkt in Varrissou. Direkt neben meinem Wohnblock gibt es eine riesige Betonbrücke, auf die ein Einkaufszentrum gebaut wurde. Hier lungert die ganze Vielfalt des Viertels herum: finnische Teenager hocken auf den Bänken und nehmen die ersten Züge von Zigaretten, zerlumpte Männer und Frauen schlurfen mit ihren Bierdosen vorbei, psychisch erkrankte Menschen brabbeln vor sich hin, internationale Studenten huschen kleinlaut mit ihren Einkäufen rein uns raus, und Frauen mit langen bunten Schleiern zerren ihre Kinder hinter sich her. In Varissou sind 40 % der Bevölkerung Immigranten, sagt der Dozent des Institutes für Migration. Das Viertel sei in ganz Finnland bekannt: für verfehlte Integration und ein Musterbeispiel für ein Areal mit niedrigen soziökonomischen Status, erzählt mir mein finnischer Bekannter Ilari.

Während ich also an den Obst und Gemüsekisten im Supermarkt vorbeigehe, wirft mir eine Frau mit strähnigen blonden Haaren und herunterhängenden Falten einen verschlagenen Blick zu. Sie geht ein paar Schritte. Ich gehe ein paar Schritte vorbei zu den Bananen. Sie geht weiter, bleibt in meiner Nähe und beobachtet mich misstrauisch. Ich kann ganz genau sagen, dass sie denkt, ich verfolge sie. Als ich an der Kasse stehe, drängelt sie sich hastig vor mich, beim Eintippen des Pincodes an der Kasse, dreht dreht sie das Gerät brüsk von mir weg. Seufzend packe ich meine Einkäufe zusammen. Warum lebe ich hier? It's hostile. It's hostile and anonymous.


Die Straße in meinem Block Varissou
Häuser für alle
Mein grünes Herz schlägt natürlich für Inklusion und Multikulturalismus. Aber die Konzentration der Inklusion von vielen psychisch erkrankten und suchtabhängigen Menschen in einem Viertel führt zu einer Armutsspirale. Alle Menschen ohne Arbeit werden auf einen Bereich der Staat konzentriert. Die Architektur sagt aus, dass du keine Hoffnung erwarten kannst. Der Staat baut für die Sozialempfänger diese Häuser. Diese Häuser werden alle in derselben grau-monotonen Bauweise nebeneinander gebaut. Zusätzlich ist der Anteil der nicht-finnisch sprechenden Menschen sehr hoch. Flüchtlinge und Arbeitsmigranten haben es naturgemäß schwerer in der Gesellschaft und auf dem Arbeitsmarkt. Alle diese heterogenen Gruppen zusammen zu würfeln, führt nicht zur erwünschten Toleranz, sondern zu Segregation, die ich jedem Tag im Einkaufszentrum erleben. Jede Gruppe bleibt für sich. Die Konsequenz ist eine „white flight“, junge „weiße“ Familien ziehen in homogenere Vororte, in Varissou leben hauptsächlich alte Finnen und junge Migranten.

Als ich das Kunstmuseum in Turku besucht habe, gab es im Keller eine Ausstellung zu der Veränderung Turkus seit Beginn der Stadt. Ich war sehr erstaunt zu sehen, dass es viele deutsch-finnische Handelsbeziehungen überall präsent waren und viele Deutsche tatsächlich in Turku gelebt haben. Zusammen mit meinen transnationalen Studien in der Universität werde ich wieder daran erinnert dass die derzeitige Globalisierung und der, heute als "Herausforderung" betiltete Multikulturalismus, kein neues Phänomen ist. Im Mittelalter und intensiver mit der beginnenden Industrialisierung im 19. Jahrhundert wohnten in allen Städten Menschen von unterschiedlicher kultureller Herkunft. Abgeschirmte Nationalstaaten gab es noch nicht. Bis zum ersten Weltkrieg waren die Grenzen zwischen den USA und Europa komplett offen. Jede/r konnte emigrieren. Nach dem zweiten Weltkrieg war die Nationalisierung auch in Europa abgeschlossen: überall auf dem Kontinent wanderten über Jahre riesige Migrationsströme in neu geschaffene Nationalstaaten. Alle deutschen Gemeinschaften in Osteuropa mussten sich „einbürgern“. Während dem Kalten Krieg und nach 9/11 wurden wieder streng die Grenzen bewacht.
Chang, Ich, Rentierreflektor, Akram (v.l.n.r.)
Mein algerischer Freund hier, Akram, hat mir erzählt, dass er nicht nach Großbritannien für zwei Wochen Urlaub einreisen durfte, dabei hatte er sich so gefreut das Harry-Potter-Schloss zu besuchen.

Soziologisch gesehen nennt sich das methodologischer Nationalismus. Man denkt nur noch – und kann nicht anders – in Nationalstaaten. Nationalstaaten werden als unhinterfragbares Konstrukt in Statistiken, Mentalität, Sprache und der internationale Politik angenommen. Sie werden als „Container“ über jedes soziale Phänomen gestülpt. Gesellschaft ist die Gesellschaft eines Nationalstaates. Dabei gibt und gab es transnationale Kontakte, Menschen die sich mit mehreren oder mit keinen Staaten identifizieren, Diasporas, Arbeitsmigranten oder ökonomische Formen der zwischenstaatlichen Kooperation. Dein ist mein Herz, Europa.

2 Kommentare:

  1. Danke für die interessanten Einblicke!
    Noch dazu so schön lebendig geschrieben :)
    Vielleicht freust du dich ja über Kommentare?

    Was ist denn daran Integration, wenn alle "besonderen" Leute zusammen irgendwo weg von den "normalen" Leuten gebracht werden? Das ist doch eher Exklusion!
    Gegen den methodologischen Nationalismus hilft vielleicht auf sprachlicher Ebene das Lebendighalten von Dialekten, das Bewusstsein, welche Wörter in verschiedenen Sprachen doch ähnlich sind usw?

    LG, Katha

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  2. Valerie, liiiiieben Dank für die liiiiiebe Mumin-Karte! Sogar mit Mumin-Briefmarke, ich bin begeistert!!!
    Hyvää Joulua ja Onnellista Uutta Vuotta, das wünsch ich dir auch!
    Und by the way: guter Text, analytisch interessant und normativ teile ich natürlich absolut deine Meinung: Dein ist mein Herz, Europa! Wir sehn uns dann im EP!
    Es grüßt der Langsam-nicht-mehr-ganz-NeuBärliner, nä,
    Adrian

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