Ich betrete den Supermarkt in Varrissou. Direkt neben meinem Wohnblock gibt es eine riesige Betonbrücke, auf die ein Einkaufszentrum gebaut wurde. Hier lungert die ganze Vielfalt des Viertels herum: finnische Teenager hocken auf den Bänken und nehmen die ersten Züge von Zigaretten, zerlumpte Männer und Frauen schlurfen mit ihren Bierdosen vorbei, psychisch erkrankte Menschen brabbeln vor sich hin, internationale Studenten huschen kleinlaut mit ihren Einkäufen rein uns raus, und Frauen mit langen bunten Schleiern zerren ihre Kinder hinter sich her. In Varissou sind 40 % der Bevölkerung Immigranten, sagt der Dozent des Institutes für Migration. Das Viertel sei in ganz Finnland bekannt: für verfehlte Integration und ein Musterbeispiel für ein Areal mit niedrigen soziökonomischen Status, erzählt mir mein finnischer Bekannter Ilari.
Während ich also an den Obst und Gemüsekisten im Supermarkt vorbeigehe, wirft mir eine Frau mit strähnigen blonden Haaren und herunterhängenden Falten einen verschlagenen Blick zu. Sie geht ein paar Schritte. Ich gehe ein paar Schritte vorbei zu den Bananen. Sie geht weiter, bleibt in meiner Nähe und beobachtet mich misstrauisch. Ich kann ganz genau sagen, dass sie denkt, ich verfolge sie. Als ich an der Kasse stehe, drängelt sie sich hastig vor mich, beim Eintippen des Pincodes an der Kasse, dreht dreht sie das Gerät brüsk von mir weg. Seufzend packe ich meine Einkäufe zusammen. Warum lebe ich hier? It's hostile. It's hostile and anonymous.
Die Straße in meinem Block Varissou |
Häuser für alle |
Als ich das Kunstmuseum in Turku besucht habe, gab es im Keller eine Ausstellung zu der Veränderung Turkus seit Beginn der Stadt. Ich war sehr erstaunt zu sehen, dass es viele deutsch-finnische Handelsbeziehungen überall präsent waren und viele Deutsche tatsächlich in Turku gelebt haben. Zusammen mit meinen transnationalen Studien in der Universität werde ich wieder daran erinnert dass die derzeitige Globalisierung und der, heute als "Herausforderung" betiltete Multikulturalismus, kein neues Phänomen ist. Im Mittelalter und intensiver mit der beginnenden Industrialisierung im 19. Jahrhundert wohnten in allen Städten Menschen von unterschiedlicher kultureller Herkunft. Abgeschirmte Nationalstaaten gab es noch nicht. Bis zum ersten Weltkrieg waren die Grenzen zwischen den USA und Europa komplett offen. Jede/r konnte emigrieren. Nach dem zweiten Weltkrieg war die Nationalisierung auch in Europa abgeschlossen: überall auf dem Kontinent wanderten über Jahre riesige Migrationsströme in neu geschaffene Nationalstaaten. Alle deutschen Gemeinschaften in Osteuropa mussten sich „einbürgern“. Während dem Kalten Krieg und nach 9/11 wurden wieder streng die Grenzen bewacht.
Chang, Ich, Rentierreflektor, Akram (v.l.n.r.) |
Soziologisch gesehen nennt sich das methodologischer Nationalismus. Man denkt nur noch – und kann nicht anders – in Nationalstaaten. Nationalstaaten werden als unhinterfragbares Konstrukt in Statistiken, Mentalität, Sprache und der internationale Politik angenommen. Sie werden als „Container“ über jedes soziale Phänomen gestülpt. Gesellschaft ist die Gesellschaft eines Nationalstaates. Dabei gibt und gab es transnationale Kontakte, Menschen die sich mit mehreren oder mit keinen Staaten identifizieren, Diasporas, Arbeitsmigranten oder ökonomische Formen der zwischenstaatlichen Kooperation. Dein ist mein Herz, Europa.