Wenn ich frage, was die Finnen am meisten an ihrem
Wohlfahrtstaat nicht leiden können, antworten sie meistens mit: „Bürokratie“.
Ich überlege, und befinde, dass die Formulare, die ich ausfüllen musste (und
muss), um Auslandsbafög zu bekommen, wahrscheinlich auch Deutschland als bürokratischen
Staat klassifizieren. Die großte Gefahr für die Demokratie sei die Bürokratie,
sagt Max Weber. Ein ewiges Dilemma: der Staat der am gerechtesten ist,
behandelt alle seine BürgerInnen gleich, was bedeutet dass alle Menschen
durch die gleichen normierten und technisierten Institutionen müssen. Die Kehrseite
sind fehlende Entscheidungsspielräume, wenig Kreativität und mangelnde
Flexibilität. Alles Symptome einer Bürodemokratie,
wie ich die Verbindung von Bürokratie und Demokratie jetzt nennen werde.
Individuelle Schicksale gehen in dieser Schablone der staatlichen Leistungen
unter. Wenn z.B. eine Studentin existentiell mehr Geld für ihr Studium braucht,
das Einkommen ihrer Eltern aber 5 Euro über der staatlich gesetzten
Mindestgrenze liegt. Natürlich gibt es in Finnland wie in Deutschland
Verwaltungsangestellte, die ein Auge zudrücken, aber dafür müssen sie damit in
einem Gewissenskonflikt gegenüber ihrem Arbeitgeber, dem Staat, treten. Verhindert
die Bürokratie, das detaillierte Ausfüllen von Formularen als Beweise für eine
saubere Arbeitsweise in den Verwaltungen, Korruption? Ja und Nein. Dass man
alles belegen muss, macht die staatliche Verteilung von Geldern sicher
transparenter. Auf der anderen Seite ist das Merkmal von korrupten Staaten, die
ständige Zahlung von Bestechungsgeldern für ein Verwaltungsdokument. Wie ich
von Mirjam weiß, war das „Zettel ausfüllen“ bei mehreren offiziellen Stellen für
die simpelsten Dinge während ihres Studiums in Moskau, ein Merkmal
bürokratischer Sinnlosigkeit.
In der Bürodemokratie sind fast alle Bereiche verstaatlicht.
Die Mehrzahl der Güter und Ressourcen wird nach einem bestimmten Schlüssel
verteilt, z.B. die Hilfe der gesetzlichen Krankenkasse. In den USA gibt es kein
staatliches Krankenkassensystem, ein Unding. Dafür existieren in den USA definitiv
mehr ehrenamtliche Hilfsorganisationen als in Deutschland, „volunteering“ ist viel üblicher, als in
Deutschland. Das heißt, in dem Moment wo etwas verstaatlicht wird, werden auch
Menschen ihrer Freiheit beraubt zu handeln. Negative Aspekte des Handels von
Individuen werden unterdrückt, aber auch positive: aufeinander achtzugeben, zu
kooperieren, Solidarität zu zeigen. Vater Staat übernimmt das „gute Handeln“ schon
für uns. Deutsche gehen an Bettlern vorbei mit den Worten: „ich gebe dir nichts,
ich zahle schon Steuern“, und meinen damit dass das staatliche Sozialsystem
Ungleichheiten schon richten wird. Ein Teil des Menschseins, Mitleid zu zeigen
und entsprechend zu handeln, wird dadurch eliminiert. Auf der anderen Seite ist
es sicherlich zu viel verlangt, auf jedes Mitglied der Gesellschaft
achtzugeben, gerade in einer Großstadt. Ich erinnere mich, wie geschockt ich
von Berlin vom Anblick der vielen Armen, Kranken, Drogensüchtigen war. Wenn ich
jedesmal stehen geblieben wäre, um zu helfen,
hätte ich mein eigenes Leben gar nicht mehr weiter führen können. Hannah
sagte damals, dass es Aufgabe der Familien und engen Freunde wäre, zu helfen.
Die Menschen sind in der Pflicht, die dem Bedürftigen nahe stehen. Aber es gibt
Menschen die sind so einsam, die haben keine Familie oder Freunde mehr. Für
diese Menschen brauchen wir wieder den Staat.
In was für einer Gesellschaft will ich also leben? Ich
möchte in einer Gesellschaft leben, in der der Staat sich um mich kümmert, wie
aber auch die Menschen sich gegenseitig umeinander sorgen, die in diesem Staat
leben. Ich möchte ehrenamtliche Arbeit, menschliche Solidarität und staatliche Hilfe. Wie könnte das
funktionieren? Ich habe nur eine normativ-ethische Antwort: Vielleicht müssen
wir uns eingestehen, dass der Staat niemals alles
regeln kann. Und staatliche Regulierung ist vielleicht in manchen Bereichen
sogar schädigend. Also müssen, da wo der Staat nicht ist, helfen. Und
gleichzeitig alle staatlichen Hilfsangebote nutzen.
Oder war das jetzt zu banal?
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